
»Mach dir deine eigenen Götter und unterlasse es, dich mit einer schnöden Religion zu beflecken«, forderte einst Epikur. Drei Viertel der Dresdner folgen seinem Rat, ein Drittel sieht die Sache anders. Warum aber wollen die meisten dennoch an irgendetwas glauben?
■ Text: André Hennig
In Dresden gibt es nicht nur jede Menge Sehenswürdigkeiten, sondern auch jede Menge Kirchen. Manche sind gleichzeitig Sehenswürdigkeiten, manche nicht, insgesamt stehen rund 70 davon im Stadtbild herum. Nehmen wir an, wenigstens die Hälfte der Dresdner wäre im kirchgangfähigen Alter, sie müssten sonntags, am siebten Tag der Woche, aus allen Nähten platzen: Rund 3.500 Gläubige füllten dann durchschnittlich jedes Gotteshaus, um den Predigten evangelischer Pastoren und katholischer Priester zu lauschen. Denn am siebten Tag, nachdem er dies und das geschaffen hatte, ruhte Gott und die Gläubigen sind angehalten, ihn am siebten Tag einer jeden Woche dafür zu preisen. Für Katholiken ist der Besuch der heiligen Messe Pflicht, die evangelisch-lutherische Kirche legt ihren Schäfchen den Besuch des sonntäglichen Gottesdienstes zumindest nahe.
Die Realität sieht in Dresden freilich anders aus. Die Kirchen sind, außer vielleicht an Weihnachten, alles andere als gut gefüllt. Denn im Elbtal ist das Abendland nicht mehr ganz so christlich: Nur rund 79.000 Dresdner sind evangelisch-lutherisch, über die vergangenen zehn Jahre hinweg ist diese Zahl relativ stabil. Außerdem gibt es knapp 27.000 Katholiken, Tendenz leicht steigend, ein paar Orthodoxe und ein paar Freikirchen mit überschaubarer Anhängerzahl. Nur rund 20 Prozent der Dresdner glauben also an den Gott der Christen, dazu kommen rund 500 Buddhisten, 100 bis 200 Hindus (da sind wohl besonders überzeugte Yoga-Anhänger schon mitgezählt), rund 700 Juden, einige wenige Sikhs und Bahai und rund 5.000 Menschen, die sich zu diversen esoterischen Weltanschauungen hingezogen fühlen. Die Zahlen stammen aus einer Schätzung von Absolventen der Religionswissenschaften an der Universität Leipzig in Zusammenarbeit mit der evangelisch-lutherischen Landeskirche in Sachsen und sind nicht wirklich belastbar, wie die Initiatoren selber zugeben. Gerade bei den kleineren Religionsgemeinschaften seien Abweichungen um bis zu 100 Prozent möglich. Die Zahl der sunnitischen Muslime wird hier mit rund 1.200 angegeben und dürfte wohl deutlich zu niedrig angesetzt sein. Eine belastbare Statistik existiert nicht, für ganz Sachsen sind Zahlen zwischen 20.000 und 50.000 Menschen in Umlauf, die sich zu Allah und seinen Propheten bekennen.
Selbst wenn man dem höheren Wert zuneigt, kann man also davon ausgehen, dass der Anteil der muslimischen Bevölkerung in Sachsen knapp über einem Prozent liegt. Legt man diese hochgegriffene Schätzung direkt auf Dresden um, dürfen wir wohl dennoch vorerst davon ausgehen, dass der Untergang des christlichen Abendlandes nicht aus dieser Richtung droht. Nicht grimmige Gotteskrieger lassen in Dresden den christlichen Aspekt vom Abendland abschmelzen, sondern das Desinteresse an diesem Aspekt, das ein Großteil der Einwohner pflegt: Rund 75 Prozent sind konfessionslos, per definitionem also ungläubig. Kommen all diese Menschen völlig ohne Glauben aus?
Kehren wir kurz zu dem einen Prozent der Dresdner zurück, die sich nicht zu einer der klassischen Religionen hingezogen fühlen, aber dennoch Erklärungen am Lauf der Dinge jenseits des rational Erklärbaren suchen: 5.000 Menschen in Dresden fühlen sich, wie oben erwähnt, zu esoterischen Welterklärungen hingezogen. Sie glauben an Feen und Trolle, an Geistheilung, schamanistische Praktiken und heidnische Götter, an Globuli, Chakren, Tai Chi, Qi Gong, Feng Shui oder Reiki, sie sind Rosenkreuzer oder Theosophen. Schauen wir uns ein wenig im Alltag um, treten weitere Glaubensbekenntnisse zutage: Menschen, die an biologische, vegetarische oder vegane Ernährung glauben, an regelmäßige Besuche im Fitnesscenter, an diesen oder jenen Technologiekonzern, an diese oder jene Medien ( je nachdem, in welcher Filterblase sie wohnen), an die eine oder die andere Partei, an den Kapitalismus, an dessen Ende, ans Grundgesetz, an das Gute im Menschen oder daran, dass dieser dem Wesen nach schlecht ist. Selbst Atheisten glauben an etwas, nämlich daran, dass Gott nicht existiert. An etwas also, dass sich genauso wenig beweisen lässt, wie das Gegenteil.
Warum aber begnügt sich der Mensch nicht mit zweifelsfrei belegbarem Wissen, warum will er unbedingt …
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